
Am Anfang war eine verrückte Idee, die wahrlich so neu nicht ist: „Einfach mal für zwei Jahre aus dem Hamsterrad aussteigen und auf Weltreise gehen.“ Wir schreiben das Jahr 2013, als wir uns das sagen. Was für Reiselustige mit Hang zur Spontanität heutzutage keine Nehmerqualitäten eines Marco Polo mehr erfordert, stellt uns - Florence (40, Gymnasiallehrerin) und Eduardo (44, kaufm. Angestellter) - die wir eigentlich die „wilden Jahre“ schon hinter uns haben, aber vor ein Problem: Unsere Söhne Antoine (5) und Julien (8) wollen auch mit!
Zwei Jahre – Vier Kontinente
Allen eigenen Bedenken und wohlgemeintem Abraten unseres sozialen Umfeldes zum Trotz siegt die Sehnsucht nach der Ferne. Im August 2014 soll es losgehen.
Es folgt die Reiseplanung für die grobe Route (Süd- und Mittelamerika, Asien, Australien) und unzählige Vorüberlegungen: Antoine würde beispielsweise eben erst mit 7 Jahren in die erste Klasse kommen, was wir für verschmerzbar halten. Julien jedoch würde die für die Vorbereitung auf die weiterführende Schule wichtigen zwei Grundschuljahre versäumen; das wäre schon problematischer. Wie aber lassen sich Reisen und Schulunterricht überhaupt unter einen Hut bringen? Geht das, rein rechtlich? Wie zeitintensiv und energieaufwendig ist das Ganze? Kann ein Kind ohne Klassenverband Sozialkompetenz entwickeln? - Um nur einige Fragen zu nennen, die uns zu dem Zeitpunkt umtreiben. Im „Coffee-to-go-Zeitalter“ müsste es doch auch so etwas wie „School-to-go“ geben, so unser scherzhafter Gedanke!
Und ja, wer hätte das gedacht, nach intensiver Internet-Recherche stoßen wir auf das Angebot der Deutschen Fernschule, das sich vielleicht für unsere Zwecke nutzen ließe, so spekulieren wir. Die letzten Zweifel über Qualität des Lehrmaterials und Professionalität der Lehrkräfte werden während eines persönlichen Besuchs in Wetzlar ausgeräumt. Abgesehen davon nutzen wir die Gelegenheit, Juliens zukünftige Fernlehrerin, Frau Paul, kennenzulernen und in der Versandabteilung das Schulmaterial auszuwiegen und zu entscheiden, wie viel wir davon direkt im Rucksack mitnehmen wollen. Was das zu absolvierende Lernpensum anbelangt, gilt es realistisch zu bleiben, und wir beschränken uns deshalb auf die Module Deutsch und Mathe. Alles andere an Wissensimpulsen muss Mutter Erde und der Lauf der Dinge hergeben – so unser Plan. Mal sehen, ob die Rechnung aufgeht.
Awala-Yalimapo, Französisch-Guayana – August 2014

Geschafft! Wir haben uns der Gravitation unseres gewohnten bürgerlichen Lebens entzogen. Die Heimat liegt 7.600 km hinter uns. Ein Besuch im Raumfahrt-Kontrollzentrum Französisch-Guayanas in Kuru nebst fulminantem Raketenstart hat bereits verdeutlicht, welche Energie dafür notwendig ist. Mit Schwierigkeiten muss man bei solchen Unternehmungen natürlich immer rechnen. Dass uns allerdings schon am Tag 10 unserer Reise-Zeitrechnung, während wir in Awala-Yalimapo Lederrücken-Schildkröten beim Schlüpfen zusehen wollen, fast sämtliches Gepäck gestohlen würde, kann keiner ahnen.
Das versetzt uns einen herben Schlag, denn fast aller Besitz, auf den wir uns nach minutiöser Abwägung und akribischer Selektion schon beschränkt hatten, ist weg! Inklusive der externen Festplatte mit sämtlichen Daten der Reiseroute, die ich eigentlich bei mir hätte haben sollen! Immerhin bleibt uns ein Gewalttrauma erspart Dasselbe gilt an jenem Abend auch für die frisch geschlüpfte Schildkröte, die wir vorher, an potenziellen Prädatoren (Krebse, Möwen, etc.) vorbei, direkt ins Meerwasser befördert hatten. Der teuerste Naturparkbesuch unseres Lebens und die Erkenntnis, dass Verzicht durchaus etwas Befreiendes haben kann.
São Paulo, Brasilien - Oktober 2014

Unser Equipment haben wir in stark abgespeckter Form wieder beisammen, inklusive neuem Schulmaterial und einem faltbaren Wascheimer, womit die Frage beantwortet wäre, was wir in den Wochen zuvor am meisten vermisst haben. Ein spektakulärer Besuch der Iguazu-Wasserfälle liegt schon hinter uns.

Jetzt heißt es aber einiges an Lernstoff nachholen. Vorteil: Er lässt sich leicht vermitteln, er steht uns 7 Tage die Woche zur Verfügung, auch in den Schulferien, und wir bestimmen selbst das Pensum. So bleibt genügend Freizeit fürs Entdecken. Diese nutzen wir zum Beispiel heute für einen Besuch im örtlichen Microbiologiemuseum, dem Institut Butantan. Hier wird aus verschiedenen Schlangenarten Antiserum gewonnen und deshalb sind viele gefährliche Spezies fürs Publikum in Terrarien zu sehen. Was unsere Jungs auch sehr interessant finden: Viren unterm Mikroskop betrachten und hinterher sein Lieblingsvirus selber zeichnen. Einige Wissenschaftler haben echt Humor!
Oh, wie schön ist Panama – März 2015

Auf der Fähre von Cartagena (Kolumbien) nach Panama kann man auch wunderbar Hausaufgaben machen. Die Zeit ist sinnvoll genutzt, denn außer Meer und Himmel gibt es an Deck nicht viel zu sehen. Im nächsten Hotel werden wir hoffentlich einen stabilen Internetzugang haben, um Frau Paul die abfotografierten Übungen in Mathe und die Sounddatei mit dem auswendig gelernten Gedicht „Grau und Rot“ zu senden. Der regelmäßig zu bearbeitende Stoff und der Kontakt zur Fernschullehrerin gibt Julien – wahrscheinlich aber noch mehr uns Eltern - einen nicht zu unterschätzenden Bezug zur Heimat. Bei aller Liebe zu grenzenloser Freiheit gibt dies, gerade wenn die Reisekulisse sich permanent ändert, dem Tag eine gewisse Routine, zumindest bis zur nächsten Überraschung …

„No pueden entrar“ heißt dann auch das ausgesprochene Einreiseverbot des panamaischen Grenzbeamten am nächsten Tag. Wir haben nachweislich kein Ausreiseticket und er will uns zurück nach Cartagena schicken. Die Fähre fährt aber nur einmal wöchentlich. Ein kafkaesker Albtraum, der sich hoffentlich in Wohlgefallen auflösen wird. Die kleffenden Rottweiler und der sehr schroffe, militärische Umgangston wirkt nicht nur auf die Kinder bedrohlich. Nach zwei Stunden „Haft“ in einem stickigen, fensterlosen Zimmer lautet das Urteil: 3-Tage-Visum für uns „illegale Einwanderer“! Panamaische Gastfreundschaft hat so ihre Grenzen. Das reicht aber für eine Visite des Panama-Kanals und … Tschüss!
Flores, Guatemala - April 2015

Heute steht unvorhergesehener Biounterricht und Geschichte auf dem Plan. Eine französische Krankenschwester entdeckt an Ihrem Krankenhaus ein seltenes, tödliches Virus bei Kindern und sucht in Guatemala nach einer Heilpflanze. Sie steigt in unserem Hotel ab und weiht uns in ihr verwegenes Vorhaben ein. Der Stoff, aus dem Indiana-Jones-Filme gestrickt sind, denn auch das freigelegte, von Militärs großräumig abgesperrte Grab der kriegerischen Mayakönigin El Kabel spielt anscheinend eine Schlüsselrolle. Die Kinder machen vielleicht Augen! Von Julien möchten wir wissen, ob er denn nicht seine Klassenkameraden und die „echte“ Schule vermisse. Er lacht nur, dabei hatten wir es gar nicht ironisch gemeint.
Teotihuacán, Mexiko - Juni 2015

Wir stehen auf der sogenannten Sonnenpyramide und genießen das atemberaubende Panorama. Die bis heute unbekannten Erbauer der 40 km nordöstlich von Mexico City gelegenen Tempelanlage von Teotihuacán haben sich die Mühe gemacht, sämtliche den 4 km langen Camino de los muertos säumende Bauten nach unserem Planetensystem auszurichten. Woher hatten die nur diese exakten astronomischen Kenntnisse? Der Grundstein für eine intensive Recherche ist gelegt, die noch Monate andauern soll.
Und überhaupt ...

Wir sind mit Sicherheit die einzigen Rucksackreisenden, die außer 12 kg Schulmaterial eine Playmobil-Pirateninsel im Gepäck haben, da gehen wir jede Wette ein. Zugegebenermaßen haben wir bisher nicht so viele „Exoten“ wie uns gesehen. Alle coolen Backpacker werden ganz kleinlaut, wenn wir am Spot erscheinen. Haben sie doch gerade den 6-stündigen Aufstieg zum Vulkangipfel mit Führer und Sauerstoffmaske erklommen und die ersten Selfies in Siegerpose in Facebook gestellt, tauchen wir auf und fragen, wo hier bitteschön der Weg zum Lavaschlund ist; unsere Kinder wollen halt Ihre Marshmallows grillen!
Uluru, Australien – September 2015

Jetzt sind wir mit dem Wohnmobil schon über 2000 km von Darwin zum Uluru gefahren und nicht EIN Känguru. Nicht traurig sein, Kinder, dafür waren die Jumping Krokodils im Kakadu Nationalpark aber mehr als beeindruckend. Während sie vorne am Bug des Bootes vom Ranger mit einem Fleischstück angelockt werden und sich bis zu 2 Meter aus dem Wasser recken, um das Leckerli zu ergattern, sollte man aber immer ein Auge aufs Heck behalten. Krokodile sind schon länger auf der Erde als wir, das hat einen Grund!

Am Uluru, dem magischen roten Fels im Zentrum des Landes, spüren wir dieses wahnsinnige Gefühl, nur ein Krümel im Universum zu sein. Für die Aborigenes gilt der Monolith als heilig, das schert allerdings viele Touristen nicht. Sie „entweihen“ ihn durch Ihre Besteigung. Julien und Antoine regt das unendlich auf. Sie beginnen ein Gespür dafür zu bekommen, wenn Menschen Ungerechtigkeit widerfährt.
Ellora, Indien - Januar 2016

„Incredible India!“ So wirbt die indische Tourismusbranche für das Land. Und es ist wahr. In Indien ist alles möglich. Eine Kuh im Restaurant, eine spontane Einladung zu einem Totenritual einer brahmanischen Familie zu Hause. Die Einladung spricht uns ein Mann aus, der uns an der Bushaltestelle beobachtet und Mitleid für uns empfindet. Denn schon wieder rollt ein Bus an die Haltestelle, und noch ehe er zum Stehen kommt, springen die Passagiere mitsamt Gepäck durch die Fenster - sowohl raus als auch rein.

Wir verbringen einen unvergesslichen Tag bei der brahmanischen Familie und besichtigen zuvor die Ellora-Höhlen, den größten Tempelkomplex der Welt, der jemals in einen Felsen geschlagen wurde. Ja, richtig, mit Hammer und Meißel. Sisyphus lässt grüßen. Jede Beschreibung wird diesem Bauwerk, das wohl von Titanen geschaffen worden sein muss, nicht gerecht. Bitte selbst ein Bild davon machen!!
Siem Reap, Kambodscha – Februar 2016

Auch hier kann man einfach nicht glauben, was man sieht. Monumentale Architektur, mit primitiven Mitteln erbaut und immer wieder mit astronomischem Bezug. Baupläne hat man nie gefunden. 3D-Puzzle, könnte man meinen. Die Rede ist vom Angkor-What-Tempel. Aber die Quaderformen kennt man schon aus anderen Ecken der Welt. Können verschiedene Kulturen zu verschiedenen Zeiten auf verschiedenen Kontinenten voneinander gewusst haben? Diesen und anderen spannenden Fragen können wir nachgehen, denn wir haben ja Zeit.

Der Ernst des Lebens ruft: E-Mail von Frau Paul. Die Ergebnisse der Klassenarbeiten. Wir sind sehr gespannt. Beim Lesen der Noten kommt jedoch Freude auf. Und Frau Paul weiß durch Ihre Kommentare immer wieder hervorragend zu motivieren. Inzwischen sind Florence und Julien aber auch ein eingespieltes Team. Antoine muss sich aber noch etwas anstrengen, bis zum Schuljahresende lesen zu können, denn wir wollen es nach der Rückkehr doch gleich mit der zweiten Klasse versuchen.
Baguio, Philippinen – April 2016

Wir sind in dem Land, wo in staatlichen Schulen bis zu 75 Schüler in einer Klasse sitzen, und verspüren Demut bei dem Gedanken, in Europa geboren zu sein, mit all seinen Errungenschaften, von denen wir profitieren. Der Umstand, jeden Tag über so viel Zeit für sich zu verfügen, ist unbeschreiblich. Wir nutzen sie heute, um einen Professor der Anthropologie in der Universität von Baguio zu besuchen. Ziel ist, sich ein paar Artefakte von der indigenen Kultur anzuschauen, welche die einzige weltweit war, die ihre Toten mumifizieren konnte, inklusive innerer Organe (was sie damit von den Ägyptern unterscheidet). Wir diskutieren mit ihm über interessante Parallelen zu den südamerikanischen Kulturen, wie der der peruanischen „Moche“. Auch diese bestatteten Ihre Toten in fetaler Position. Das ist so bereichernd und ein fantastisches Kontrastprogramm zum Alltagsleben. Wir gratulieren uns jeden Tag zu dieser Reise.

Unser unvorteilhafter Kontostand signalisiert uns, dass allmählich das Ende naht, aber der Zufall will es, dass unser Rückflug über London gehen wird und wir somit noch Stone Henge zu Gesicht bekommen. Juliens Traumziel und ein würdiger Abschluss für diese fantastische Reise, finden wir. Na ja, fast. Denn ein Visum passt schließlich noch in unsere Reisepässe und wir beschließen, uns spontan einer Friedensfahrt nach Russland anzuschließen. Und so gelingt es uns, ein weiteres Klischee – das des tristen Mütterchen Russlands - abzulegen.
„Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.“ - Alexander von Humboldt
Und nach der Rückkehr?

Antoine ist zu unserer Freude gleich in die 2. Klasse gekommen und saß neben Louisa, seiner besten Freundin aus dem Kindergarten. Julien hat ohne Probleme den Einstieg aufs Gymnasium geschafft und war zum Halbjahr mit zwei weiteren Mitschülern Klassenbester (1,6 Notendurchschnitt). In vielerlei Hinsicht scheint er reifer als seine Mitschüler. Er hat definitiv keinen Schimmer, wie herum er eine Playstation halten muss, kennt aber dafür einen Haufen klassischer Literatur!
„Wart Ihr eigentlich wirklich zwei Jahre fort?“, fragen uns Nachbarn, Bekannte, Freunde erstaunt. Wir kehren sehnsüchtig in uns und denken: „Nein, es war eine Ewigkeit.“
Wir danken der Deutschen Fernschule, zur Realisierung dieses Traums beigetragen zu haben.